Journée d'étude - Der Kriminelle

Journée d'étude - Der Kriminelle

Veranstalter
Centre de recherches interdisciplinaires sur l'Allemagne (UMR 8131 EHESS/CNRS)
Veranstaltungsort
Maison Heinrich Heine, Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
28.02.2004 - 28.02.2004
Deadline
20.02.2004
Von
Falk Bretschneider

Die Kriminalitätsgeschichte erlebt seit etwa 20 Jahren einen ungebremsten Aufschwung. Französische und, mit einiger Verspätung, deutsche Geschichtswissenschaft haben sich im Zuge neuer kulturgeschichtlicher Fragestellungen der kriminellen Delinquenz zugewandt, um Fragen nach den gesellschaftlichen Normensystemen der Vergangenheit genauer beantworten zu können.

Die Konstruktion des „Verbrechers“ in populären Medien, mehr noch aber in den Texten der kriminalwissenschaftlichen Literatur ist in den letzten Jahren intensiv untersucht worden. Dabei wurde offenbar, wie in unterschiedlichen Weisen „das Kriminelle“ zum Gegenpol der bürgerlichen Gesellschaft gemacht und der Verbrecher in ein äußeres, in ein sozial Anderes verschoben wurde. Vom bürgerlichen Standard abweichende Lebensführungen sahen sich mit zunehmender Obsession beobachtet.

Diese Forschungsergebnisse stammen fast ausnahmslos aus Analysen der juristischen, medizinischen, psychologischen und kriminologischen Diskurse, die sich seit dem beginnenden 19. Jahrhundert um den delinquenten Menschen und sein Leben gruppierten. Die Analysen kritisieren dabei einen obrigkeitlichen Blick, gleichfalls unterliegen sie ihm jedoch auch, indem sie in der Auseinandersetzung von Gesellschaft und Delinquenz auf eine weitgehende Identität der diskursiv gesetzten Normen und der Alltagspraktiken vertrauen.

Diese Identität soll mit der Journée d’étude nun produktiv hinterfragt werden. Dabei soll der Blick zuvörderst in zwei Richtungen gelenkt werden:

1. Zu stellen ist zunächst die theoretische Frage nach dem Zusammenspiel von Diskursen und individuellem Handeln. Aus den diskursiv gesetzten sozialen Normen folgen Klassifikationen, denen Menschen als „Kriminelle“ unterworfen werden. Diese Klassifikationen sind recht gut untersucht. Weniger analysiert sind dagegen bisher die Reaktionen der ihnen Ausgesetzten. Dabei lässt sich annehmen, dass Menschen nicht nur untereinander interagieren, sondern auch mit den diskursiven produzierten Normen, die sie klassifizieren wollen. Daraus folgte, dass die Klassifikation als ein reflexiver Prozess zu verstehen wäre, an dem Menschen auch durch kurzfristige Reaktion handelnd teilhaben können, und dass Klassifikationen nicht als statische Herrschaftstechniken anzusehen wären. Diskursive Prägung von Lebenswelt wäre daher zu erweitern um eine dynamische Komponente individueller bzw. kollektiver Reaktion auf konstruktionistische Determination von Alltagsleben. (Besondere Spannung verspricht das Beispiel Kriminalität, da die individuellen Handlungsmöglichkeiten hier kaum getrennt von der Frage der Macht betrachtet werden können. Dabei muss jedoch eine Konzeption der Macht zum Tragen kommen, die relational und nicht hierarchisch denkt.)

2. Darüber hinaus ist nach konkreten historischen Beispielen für die Auseinandersetzung zwischen Diskursen und individuellem Handeln Ausschau zu halten. Normen/Klassifikationen sind jeweils in soziale Umgebungen eingebettet, die ihre Realisierungen beeinflussen. An konkreten Beispielen (z. B. dem Alltagsleben im Zuchthaus, dem Prozessgeschehen) soll daher verfolgt werden, wie Menschen mit den Zwangssituationen umgehen, denen sie durch Klassifikationen ausgesetzt werden. Dabei interessieren der kreative Umgang und die Strategien, mit denen Klassifizierte dem scheinbar Unausweichlichen auszuweichen versuchen, mit denen sie es attackieren, begrenzen, sogar delegitimieren und verändern können. Geprüft werden soll dabei die Vermutung, dass häufiger als bisher angenommen Menschen in der Geschichte in der Lage waren, Potentiale eigener Lebensgestaltung gegen deterministische Normen durchzusetzen. Sie vermochten mit den Diskursen quasi zu verhandeln und ihnen eigene Lebensfreiräume abzuringen. Verschiedene Machtkonfigurationen sollen dabei deutlich werden, die lebendige Menschen nicht allein als Opfer der Gestaltungskraft des Diskursiven zeigen, sondern als seine kreativen Gegenspieler.

Programm

9h30
Ouverture

*

10h00 - 12h00
Présidence : Jean-Marc BERLIERE (Université de Dijon)

Frédéric CHAUVAUD (Université de Poitiers): Le criminel au XIXe siècle entre histoire sensible et histoire expertale

Peter BECKER (European University Institute Florence): Mein Brot ist ein saures Brot? Sur l’ambiguïté du terme ‘travail’ entre criminels et criminalistes au XIXe siècle

*

14h00 - 18h00
Présidence : René LEVY (CESDIP à Paris)

Rebekka HABERMAS (Université de Göttingen): La propriété devant les tribunaux? ou: comment un voleur devient-il voleur? Réflexions sur la délinquance contre la propriété au XIXe siècle

Dominique KALIFA (Université de Paris 1) & Philippe ARTIERES (CNRS/LAHIC-Paris): Vidal, le tueur de femmes: une biographie sociale

Falk BRETSCHNEIDER (EHESS à Paris): Bien vivre dans la prison? Stratégies institutionnelles et technologies de Soi dans l’enfermement en Saxe au XIXe siècle

Eric PIERRE (Université d’Angers): Les stratégies de résistances des jeunes et de leur famille à la détention correctionnelle des années 1870 aux années 1920

Kontakt

Falk Bretschneider

CRIA/EHESS
54 boulevard Raspail, 75006 Paris
+33 1 49 54 25 67
+33 1 49 54 22 85
bretschn@ehess.fr

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